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Die Österreichisch-Süddeutsche Provinz
der Oblaten des hl. Franz von Sales
an der Schwelle des 3. Jahrtausends:
Analysen und Zukunftsperspektiven“


Samstag, 27. Mai 2006, Augustinerkirche (Wien)
Dienstag, 3. Oktober 2006, Pfarrkirche Heilige Familie (Eichstätt)

von P. Thomas Vanek OSFS

 

Wo liegt der Wille Gottes für die Sales-Oblaten der österreichisch-süddeutschen Provinz an der Schwelle des 3. Jahrtausends? Diese Frage klingt nach einer großen Herausforderung – und fürwahr sie ist es tatsächlich. Nach vorn zu schauen mag angesichts der vielen Unbekannten, die sich uns heute und mit uns fast allen Ordensgemeinschaften im mitteleuropäischen Raum stellen, das Wagnis sein, in tiefe Angst und Resignation zu verfallen. Denn viele Umstände lassen realistisch betrachtet nur mehr auf die Ars moriendi – die Kunst zu sterben hinweisen. Das sind die ständig abnehmende Zahl der Mitbrüder, der zunehmende Altersdurchschnitt, die Entchristlichung und damit auch Entwertung des Menschenbildes in einer auf Konsum und  Materialismus  immer deutlicher aufbauenden Gesellschaft in Mitteleuropa. Und Ordensleute sterben in dieser Zeit  auch nicht viel leichter als alle anderen Menschen, denn das Loslassen betrifft sie mit all den Werken und Besitzen, die sie in den letzten hundert Jahren aufgebaut haben, genauso wie jeden Großindustriellen oder Großunternehmer, der mangels eines Erben seinen Betrieb dicht machen muss. 

So gibt es heute für uns zwei Alternativen: entweder man glaubt an die Sendung von uns Sales-Oblaten in Österreich und Süddeutschland ins 3. Jahrtausend hinein und nimmt den Umbruch dieser Zeit als Fundament eines Neuaufbruches an, oder man entscheidet sich für das Aussterben und übt die Ars moriendi ein, ohne Bitterkeit, voll Hoffnung, dass aus dem eigenen Tod Leben für die Nachkommen sprießt. Beides kann durchaus als Wille Gottes gedeutet werden, denn als Ordensleute sind wir nicht für uns selbst da und für unseren Eigenzweck sondern für die Kirche, für die Menschen, für das Reich Gottes. Und wenn unsere Sendung in 100 Jahren Ordensgeschichte erfüllt ist, wird Gott nicht davon absehen, uns Sales-Oblaten in Österreich und Deutschland klar das Finale anzuzeigen. Aber wie finden wir diesen Willen Gottes? Ich möchte dazu ein paar Analysen und Überlegungen zu dieser Frage anbieten, beeinflusst durch Artikeln, Beobachtungen, Gesprächen mit unseren Novizen, Mitbrüdern und anderen interessierten und engagierten Beobachtern unserer Provinz.

Nehmen wir an, es kommt heute ein Mann zwischen 20 und 35 Jahren zu einem der verantwortlichen Oberen der Provinz mit der Bitte: Ich möchte ein Oblate des hl. Franz von Sales in Ihrer Provinz werden. Abgesehen davon, dass dies wirklich ab und zu der Fall ist, so wird so eine Situation für uns immer mehr zum Anlass für viele Fragen an den Bewerber: Warum wollen Sie bei uns eintreten? Sind Sie sich sicher, dass Sie uns meinen? Woher kennen Sie uns? Welche Vorstellungen haben Sie? Wollen Sie wirklich in eine Gemeinschaft eintreten? Und was stellen Sie sich unter Ordensgemeinschaft eigentlich vor? Sind sie psychisch und physisch gesund? Welche Ausbildungen haben Sie? – All diese Fragen lassen auf ein unheimlich hohes und unerreichbares Unterfangen schließen, auf das sich ein Interessent für unsere Ordensgemeinschaft einlässt, - auf eine Lebensweise, die nur für die elitärsten Kreise oder für Lebenskünstler vorgesehen zu sein scheint. Ein Blick hinter die Kulisse dieser Fragen aber öffnet eine andere Perspektive. Fast scheint es, als sollten diese Fragen eine Schutzmauer vor einer Realität aufbauen, die man zusammenfassen könnte mit der Bemerkung: Ich freue mich zwar, dass Sie da sind und sich für uns interessieren, aber wir haben alle Hände voll zu tun! – Und eigentlich keine Zeit. – Wenn Sie sich noch nicht ganz sicher sind, und wenn Sie noch viele Fragen haben, dann klären Sie das vorher bitte woanders ab, und dann kommen Sie und helfen Sie uns – wir haben nämlich zur Zeit mit uns selbst genug zu tun. – Wir haben keine Leute mehr, wir müssen uns von unseren traditionellen Werken trennen, auf 3 Mitbrüder über 60 kommt einer unter 60. Das ist unsere nüchterne Zukunft. Unsere Häuser stehen toll da, doch wir haben zu wenig Nachwuchs, die Arbeit wird mehr und die Arbeitskräfte immer weniger, die Mitbrüder immer älter. – Sind Sie sich sicher, dass Sie zu uns kommen wollen?

Dieses Szenario lässt auf keine besondere Einladung schließen. Also wer zu uns kommen will, muss entweder ein Unternehmensberater sein, der einen (abwirtschaftenden) unzeitgemäßen Betrieb wieder hochbringt oder ein Konkursverwalter, der möglichst professionell die Sache zu einem guten Abschluss bringt. Was ist der Wille Gottes für unsere Sales-Oblaten - Provinz an der Schwelle zum dritten Jahrtausend?

Allgemein gesehen leiden die Religionen und die Kirchen seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bereits am zunehmenden Verfall. Im Zeitgeist der letzten 30 Jahre hat traditioneller Glaube und Religion immer weniger Platz bei den Menschen. In den 90er Jahren änderte sich das dann überraschend. Die institutionalisierte Religion verfällt zwar weiter, aber es erwachen in den Menschen andere religiöse Bedürfnisse, die sich neben den Kirchen ihre Erfüllung suchen. Ein interessantes Phänomen beobachten Soziologen [1] : Die moderne Gesellschaft killt die Religion, die sich in den Kirchen institutionalisiert hat, schafft aber gleichzeitig den Begriff „Religion“ neu. Den Grund dafür kann jeder Mensch, der die Entwicklung wachsam beobachtet, erkennen. Wissenschaft und Technik werden zum Zentrum. Irrationales, also mit der Vernunft nicht feststellbares, passt in dieses Konzept nicht mehr hinein. Jeder, der sich auf dem Boden der Vernünftigkeit bewegt, lässt sich nur mehr von dem überzeugen, was mit der Vernunft nachvollziehbar ist. Alles, was über die Vernunft hinausgeht, wird als nicht weiterführend betrachtet. Die Autonomie der Person ist ihr höchstes Ziel. Der Mensch möchte Herr des Lebens sein, und sein Leben unabhängig selbst konzipieren. Traditionelle Konzepte wie die der Religion und besonders die des Ordenslebens werden als bevormundend und freiheitsraubend abgelehnt. Niemand möchte sich durch vorgegebene Strukturen festlegen und vorherbestimmen lassen. Wenn das auch tatsächlich oft nicht so ist, bleibt dennoch im Lebensgefühl der Menschen dieser Autonomiegedanke als Kern aller Sehnsucht bestehen. Beobachten wir die Vorgaben, die heute einem Menschen gegeben sind, dann sind das aufgrund seiner Konsum- und Wirtschaftshörigkeit dennoch eine ganze Menge. Gesellschaftspropheten allerdings mahnen mittlerweile mit Vorträgen und Büchern („Schluß mit Lustig“) das Ende der Spaß- und Fungesellschaft ein. Die Wirtschaft muss Märkte schaffen, sonst geht sie ein. Noch sind die Märkte voll und die Menschen kaufen ohne Ende. Ein Blick auf einen Zeitungskiosk in einer Bahnhofshalle kann einem aber auch eine sonderbares Gefühl vermitteln: die Welt, in der wir leben, ist hochfragmentiert. Die Fachzeitschriften, die da aufliegen angefangen von der Fotofachzeitung bis zur Computerzeitung, von der Modellbaufachzeitung bis zur Modezeitung zeigt uns: Man kann in einer gewissen „Welt“ drin sein, Experte sein, es sind einem aber dadurch andere Welten auch völlig fremd. Wie verhalten Sie sich vor dem Kiosk? Sie suchen die Zeitschrift, in der ihre Welt vorkommt, die anderen scheiden Sie von vorn herein wie durch ein Filter aus. (Ich glaube kaum, dass jemand an einem Bahnhofskiosk eine Berufung zum Modelleisenbahnbau findet, wenn er sich für das neueste Handy am Markt interessiert.) D.h. es bleibt jedem einzelnen in unserer Gesellschaft aufgelastet, mit der Autonomie und Segmentierung gleichzeitig auch allein seine eigene Identität zu finden.

Vor 60 Jahren ist man in eine gestaltete Welt hineingeboren worden. Heute muss man den Sinn des Lebens selbst suchen und gestalten. Der Einzelne steht vor dem Problem, in seinem Fachbereich zwar ein Experte zu sein, aber in anderen Bereichen überhaupt nichts zu wissen und daher auch nichts zu sein. Der Mensch aber denkt nicht eindimensional. Denn selbst die Forschung hat viele Fragezeichen – ethisch und moralisch – und so manchen holen die Ängste ein, wenn er nur daran denkt, was zwar alles möglich ist (machbar ist), aber hoffentlich nie wirklich produziert bzw. verwendet wird. Seine Not erfährt der Mensch darin, dass er trotzdem auch Erfahrungen macht,  in denen er kein Experte ist. Wie aber kann er diese unterschiedlichen Erfahrungen zusammenbringen – unter einem Hut bringen? Anders gesagt: er muss selbst seinen „roten“ Faden finden, seine Identität im Zusammenspiel der unterschiedlichsten Welten und Erfahrungen. Diese Suche ist bereits eine spirituelle Entwicklung – und die Neuschaffung einer eigenen Religion. Es kann sein, dass jemand in seiner Suche nach diesem sinnstiftenden roten Faden etwas entdeckt, das es bereits in einer vorhandenen religiösen Gruppe gibt. Z.B. bei den Oblaten des hl. Franz von Sales. Und dann kommt er mit dem Wunsch, bei uns einzutreten. Es kann aber auch sein, dass er sich ganz etwas anderes unter Ordensleben vorstellt und wir ihm das so in unserer Begrenztheit nicht geben können.  Was in den 60er und 70er Jahren von der Kirche zu Friede und Gerechtigkeit, Fortschritt und Wohlstand gesagt wurde (Johannes XXII.)  hat sich offensichtlich anderswohin entwickelt: denn die Menschen erleben trotz Überfluss Mangel an Beziehungsfähigkeit, Mangel an Gemeinschaft, an Stabilität und Anerkennung.

Die österreichisch-süddeutsche Provinz steht dieser Entwicklung wie eine 100jährige würdige Dame gegenüber. In der vierten Generation bemühen sich Oblaten (unermüdlich) die liebgewordenen Apostolate mit innovativer Kraft und viel Eifer zu betreiben. Schließlich ist es uns Oblaten aus unserer salesianischen Spiritualität heraus zueigen, uns ganz hinzugeben – hinzuschenken (Oblatus) – an das, was uns aufgegeben ist, wie es unser geistliches Direktorium sagt: es geht um die Art, WIE wir uns den täglichen Anforderungen stellen. Das ist für unser Handeln entscheidend. Nach unserem Gründer P. Brisson sind wir Oblaten derart einzigartig, dass wir nicht in die sonst gültigen Kategorien von Ordensleben hineinpassen. P. Brisson bestand auf dieser Unterscheidung. Auch wenn wir manche Gemeinsamkeiten mit Ordensleuten hätten, sollten wir begreifen, dass das prägende Merkmal unserer Identität in der totalen und bedingungslosen Hingabe an Gott und nicht an eine von Menschen geschaffene juristische Körperschaft liege. Diese innere Hingabe und ihre Bedingungslosigkeit seien das, was die Bezeichnung „Oblate“ ausmacht. [2]

Doch in Anbetracht der immer größer werdenden personellen Lücken müssen wir uns erstmals in der 100jährigen Geschichte unserer Provinz mehr mit dem WAS als mit dem WIE beschäftigen, also welche Apostolate wir behalten wollen und welche wir  selbst wenn wir wollten – einfach aufgrund der personellen Not nicht mehr halten können. Abbruch-Umbruch-Aufbruch sind die Schlagworte,  die über uns wie ein Schleier liegen und uns die Sicht verdunkeln. Es sieht so aus, als hätten wir schon zu lange zugewartet, Entscheidungen hinausgeschoben, weil es doch immer wieder noch weiterging. Bischof Manfred Scheuer sagt: „Das Ordensleben steht im Spannungsfeld zwischen der Suche nach positiven Ressourcen und der Erfahrung des ‚burn out’, zwischen Selbstverwirklichung und Selbstlosigkeit, der unbedingten Erfahrung: ‚Da musst du helfen’ und den ‚hilflosen Helfern’.“ [3] Und fürwahr, diese Spannung ist eine echte Zerreißprobe für die Ordensgemeinschaften in Mitteleuropa. Der Jesuit Stefan Kiechle  stellt das noch dramatischer dar: „Da derzeit keine Wende abzusehen ist, wird man sagen müssen, dass die Orden in der bisher gekannten Form in absehbarer Zeit in Mitteleuropa verschwinden werden. Nur kleine, vermutlich in der Öffentlichkeit wenig wahrnehmbare Zellen werden weiter bestehen. Von den großen Klöstern werden schon jetzt einige – und in naher Zukunft sehr viele – geschlossen, was jedes Mal einen schmerzhaften Einschnitt bedeutet.“ [4] In seinem Referat „Sendung und Erwartung der Ordensgemeinschaften heute“ am Studientag der Frühjahrsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz im Februar dieses Jahres bestätigt der Benediktiner Christian Schütz diese Prophetie. „Wir sprechen von Ordensniederlassungen und –gemeinschaften als Auslaufmodellen, von deren Schließung, Auflösung oder Untergang, von einem Verschwinden, Sterben oder Aussterben…. Etwas schonungsvoller klingt es, wenn von einer Ablösung oder Gesundschrumpfung einer Ordensgemeinschaft die Rede ist.“ [5]

Ist also Torschlusspanik für uns Sales-Oblaten angebracht? Wir können uns zwar damit trösten, dass es allen anderen Orden auch so geht, und halten uns deshalb an dem fest, was uns in der Vergangenheit gelungen ist und uns als erfolgreich auszeichnet. Damit aber laufen wir in Gefahr, uns mehr der Durchschnittlichkeit als der Radikalität zu verschreiben. Und Radikalität ist das Wesen der evangelischen Räte, die die Freiheit im Verzicht und im Loslassen wählen, um dadurch offen für die Zeichen der Zeit und die Nöte der Menschen zu sein.

Aber gehen wir zurück zum Zeitungskiosk am Bahnhof. Wenn schon so viele Fachzeitschriften da aufliegen, warum legen wir nicht eine salesianische Fachzeitung dorthin - mit der Hoffnung, dass es jemanden gibt, der sie entdeckt und kauft. Ich glaube aber, wir würden vergebens warten. Wir würden Oblatesein ebenso zum Expertentum erklären und damit ein weiteres Fachgebiet eröffnen, das aber den Menschen an sich nicht hilft, den „roten Faden“ seiner Identität zu finden. Ich glaube vielmehr, wir haben in unserer Spiritualität gerade das, was dem Menschen hilft, seine Identität zu finden. Aber nicht aufgrund irgendeines Expertentums, sondern aufgrund eines optimistischen Gottes- und Menschenbildes. Wie oft spricht Franz von Sales davon, dass die Gottes- und Nächstenliebe, die Frömmigkeit, das geistliche Leben unabhängig davon ist, welcher gesellschaftlicher Schicht man angehört, welche Arbeit man verrichtet, oder welche Lebensform man wählt: Familie, Singledasein oder Leben in einer geistlichen Gemeinschaft. Also keine salesianische Fachzeitung ist die Lösung, sondern zu den Menschen am Kiosk hingehen, die da aus den verschiedensten sozialen Schichten und persönlichen Lebenswelten hinkommen, mit ihren Problemen, ihren Ängsten und ihren Nöten, aber auch mit ihren ganz individuellen Interessen, denn sonst würden sie nicht zum Kiosk kommen.

Christian Schütz spricht davon, dass  „viele Aufgaben, welche die in der Neuzeit entstandenen Kongregationen und Gesellschaften exemplarisch wahrgenommen und erfüllt haben, mittlerweile die Öffentlichkeit übernommen hat.“ Ich denke da an die Schulen, die Krankenhäuser und andere sozialen Dienste. „Gewiss“, stellt Schütz fest, „es fehlt nicht an neuen Notfällen, die wie ehedem am Rand des gesellschaftlichen Bewusstseins und Lebens angesiedelt sind und auf Hilfe warten; aber dafür fehlen den Ordensleuten heute sowohl die Kräfte wie die Mittel.“ [6] Dem gegenüberstellen möchte ich eine bedenkenswerte Beobachtung der Süddeutschen Zeitung, die davon schreibt, dass die Kirchen in Deutschland nur mehr die Mittelschicht der Gesellschaft erreichen. Vielleicht deshalb, weil Radikalität viel Kraft und Ausdauer braucht, und das Engagement für die Armen, ob im materiellen oder im sozialen, kulturellen und humanitären Sinn Flexibilität, Wagemut und Risikobereitschaft verlangt.  Der Einsatz für die sozial Schwachen war immer Auftrag der Kirchen, und insbesondere der Orden – das ist die Botschaft und Sendung des Evangeliums. Sind wir müde geworden, diesen Auftrag wahrzunehmen, oder müssen wir mit Jesus  feststellen: Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter.

Wenn uns Sales-Oblaten also in den täglichen Not-Wendigkeiten des Lebens der Menschen der Wille Gottes begegnet, und wir uns deshalb keine überdurchschnittlichen Supernummern suchen sollen, dann ist immer der erste Schritt - wie die Oblaten der ersten und zweiten Generation - das wahrzunehmen, was heute den Menschen zu ihrem Heil dient und eben dort zu sein, wo Menschen nach ihrer Identität suchen. Und - ihnen einen liebenden und menschenfreundlichen Gott als tragfähiges Lebensfundament zu verkünden! Einen Gott, der wie Franz von Sales sagt, Sehnsucht nach dem Menschen hat. Dass wir das mit  ganzer Hingabe, mit  ganzem Herzen aus Liebe zu Gott tun, ist der optimistische Grundzug der salesianischen Spiritualität und unsere Sendung als Oblaten des hl. Franz von Sales.

Die Sales-Oblaten in Österreich und Süddeutschland waren (in den Anfängen der Provinz und nach dem zweiten Weltkrieg) sehr mutig. Sie nahmen die Bedürfnisse der Kirche und der Menschen wahr, ohne große Auswahlkriterien. Oft waren es keine besonderen oder herausragenden apostolische Tätigkeiten. Dennoch hatten sie den Mut, das anzugehen, was noch keine kirchliche Tradition kannte, und dafür sogar einzelne Mitbrüder nach ihren Begabungen und Talenten in ein unbekanntes pastorales Neuland auszusenden.  Natürlich hatten sie auch die personellen Ressourcen.

Betrachten wir heute unsere großen Werke (Apostolate), dann wissen wir zwar, dass wir sie nicht so einfach im Stich lassen können, müssen aber auf der Hut sein, dass sie uns einerseits nicht ins „Burn out“ treiben, uns andrerseits auch nicht so blockieren, dass wir meinen, den neuen Wein (nur) in alte Schläuche füllen zu dürfen und damit Ideen und Visionen, für die sich Ordensleben existentiell freihält („Jungfräulichkeit“), mit zu vielen Vorgaben einsperren oder ersticken.  Und das Wort Jesu ist bedenkenswert: Neuer Wein gehört in Neue Schläuche. (Mk 2,22) Was aber sind die Neuen Schläuche? Propheten des Ordenslebens gibt es immer mehr, was investieren wir für unsere Umkehr? Und Umkehr heißt nicht rückwärtsgehen sondern, auch nicht stehen bleiben, sondern auf dem Weg bleiben. Und der Weg ist laut Bergpredigt nicht breit und bequem, sondern schmal und herausfordernd.

Wie kann sich (also) unsere 100jährige Provinz in die Zukunft hinein entwickeln, ohne unser salesianisches Oblaten-Charisma zu verleugnen oder gar aufzugeben?

Ich habe in einem Artikel über „Die Krise des Ordenslebens in Europa – Aufruf zu einem weltweiten Ordensleben“ [7] von José Maria Vigil, einem Theologen der Ökumenischen Vereinigung der Theologen und Theologinnen der Dritten Welt, eine interessante These gelesen, die m.E. ein herausfordernder Beitrag für die Diskussion unter uns Sales-Oblaten sein könnte. José Maria Vigil beobachtet Mitteleuropa aus der südamerikanisch-spanischen Perspektive. Auch er ist davon überzeugt, dass die religiöse Krise in Europa nicht nur das Christentum betrifft. Jede Religion würde sich in Europa verabschieden, und übrigens überall auf der Welt, wo sich eine Gesellschaft von ihren agrarischen und postindustriellen Wurzeln verabschiedet und hinentwickelt zu einer technologischen Wissensgesellschaft. Und mit den Kirchen, die in den Traditionen der „alten“ Kulturen verwoben sind, werden auch die Orden der Wissens- und Technologiegesellschaft zum Opfer fallen. Denn die meisten haben sich aus der Not der letzten Jahrzehnte heraus in das Kollektiv der Kirche eingefügt und damit ihre ursprüngliche prophetische Freiheit zurückgestellt. Man wird diesen Sterbeprozess nicht aufhalten können, höchsten hinausschieben, wenn man sich beispielsweise auf die personelle Hilfe anderer Kontinente verlässt. Eine dauerhafte Lösung aber scheint diese Perspektive nicht zu bringen. Zudem ist es uns in den letzten 40 Jahren nicht oder nur teilweise gelungen, das „Aggiornamento“ des 2. Vat. Konzils als Auftrag zu erfüllen. Die moderne Welt, mit der das Konzil im Dialog stand, gibt es nicht mehr. Wir stehen einem anderen Gesprächspartner gegenüber. Die „unerledigte“ Aktualisierung des Konzils wäre selbst, wenn sie heute verwirklicht würde, völlig überholt. Eine ganze Titanic geht unter, und es ist unnötig, sich dagegen aufzulehnen und sie zu reparieren, wieder flott zu machen oder umlenken zu können.

Mit der Engstirnigkeit der eigenen Visionen das sinkende Schiff retten zu wollen, wäre nicht mehr als Wasser aus dem Schiff zu pumpen, dabei aber doch immer tiefer zu versinken. Da die Religionen versinken, versinken auch die Institutionen. Es geht nicht mehr um eine Reform, eine Neuorientierung oder Aktualisierung, ja nicht einmal um eine „Neugründung“, sondern um Mutation, Metamorphose, um eine Neuformung. ….Die einzige Hoffnung liegt darin, sich darauf zu konzentrieren, lediglich das zu retten, was noch zu retten ist, sich damit zu begnügen, was man am Leibe trägt, oder besser noch, alles auszuziehen, was stört.

Für uns Sales-Oblaten eigentlich kein Grund zur Resignation! Kreativ an der Grenze zu leben, frei, nackt, auch in der unbekannten „Wissensgesellschaft“, die kommt und bleiben wird und uns dazu zwingt, uns von allem zu trennen, was mit ihrer Ankunft untergeht…

Ich denke, unsere salesianische Spiritualität ist fähig  - vielleicht sogar direkt prädestiniert, auf diese Herausforderung einzugehen. Denn unser geistliches Direktorium wie auch die wesentlichen Aussagen unserer Satzungen sind nicht an Orte und Zeiten gebunden, sie fordern regelrecht eine ständige Mutation, eine Neuformung des Oblaten heraus. Man versteht vielleicht, warum sich P. Brisson dagegen wehrte, die Oblaten als Ordensleute zu bezeichnen. Denn mit dem Begriff Orden ist auch immer eine Institution gemeint, und Institutionen sind auf Stabilität und Dauerhaftigkeit angelegt. Für uns ist die Hingabe an den Willen Gottes die einzige Stabilität, sie ist kein Lust- und Launeprinzip, sie meint auch primär kein Leistungsprinzip, und sie warnt davor, sich völlig vereinnahmen zu lassen. [8]

Hingabe heißt: sich täglich neu auf Gott hin zu formen, damit ich dem Alltäglichen aus Liebe zu Gott gerne nachgehe und mich dem zur Verfügung stelle, was ich als seinen Willen erkenne.  So kann die Notwendigkeit des Loslassens eine Einladung Gottes zur Notwendigkeit der Neuformung sein. Man kann mit salesianischem Optimismus unsere menschlichen Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, einsetzen, um aus einer gesunden Wahrnehmung der Gegenwart angstfrei in die Zukunft zu gehen, eine „Ars vivendi“, eine Kunst zu leben zu lernen. Und dabei den eigenen geschichtlichen Kairos zu leben.

Und ich zitiere noch einmal Christian Schütz vor der Deutschen Bischofskonferenz: Er sagt, es fehle bei aller Notwendigkeit und Berechtigung der Wege, die sich Ordensgemeinschaften zu ihrem Weiterbestand zurechtlegen, einer, „der heute im Interesse der Plausibilität, Rechtfertigung und Authentizität von Christsein und Glaube vor allem gefragt ist: der der Anschaubarkeit, Anfassbarkeit und Begreifbarkeit  Jesu Christi im lebendigen Spiegel und gelebten Zeugnis seiner Lebensweise. Gefragt ist Nachfolge Jesu zum Anfassen, im Originalton. Das ist mehr als Ethik oder Moral im christlichen Sinn.“ [9]   Es geht also um Ordensleute zum Anfassen, um Originale und keine Kopien, um den Mut, sich auch angreifen zu lassen und nicht nur zu warten, bis jemand kommt, in dessen Vorstellung wir eben hineinpassen. Wenn ich unsere Satzungen (Unsere Sendung) durchblättere, dann finde ich genau diesen Gedanken schwarz auf weiß. „Unsere besondere und ursprüngliche Berufung besteht in der erneuten Menschwerdung Christi in unserem Leben.“ (Satzungspunkt 131) [10] Christus leben, damit die Menschen ihn in uns anfassen, berühren und erfahren können. In der täglichen Neuformung Jesu in uns liegt doch ein wunderbarer Auftrag. Das war Franz von Sales: In ihm sah man den Heiland auf der Erde von neuem wandeln – so beschrieb der hl. Vinzenz von Paul Franz von Sales bei dessen Heiligsprechungsprozess. [11]

Was unser konkretes Gemeinschaftsleben betrifft, so zeigt Josef Maureder SJ in seinem Buch: „Wir kommen, wohin wir schauen“ auf, worauf es ankommt, wenn wir in die Zukunft schauen.

„Geistliche Gemeinschaften haben Zukunft,

·       wenn sie leidenschaftlich aus der Tiefe leben, d.h. wenn sie eine echte Leidenschaft für Gott und die Menschen bewegt.

·       wenn sie für junge Menschen eine „ansprechende Alternative“ sind.

·       wenn sie ein klares Profil ihrer Sendung wagen, d.h. das eigentliche Profil ihres Charismas tatsächlich leben. Und wenn sie ehrfürchtig junge Menschen auf ihrer Wegsuche begleiten, dabei das Radikale der Hingabe nicht verschweigen und trotzdem die Grenzen der Wirklichkeit annehmen.“ [12]

Wohlgemerkt, Josef Maureder spricht von geistlichen Gemeinschaften! Wie sich nun tatsächlich unsere geistlichen Gemeinschaften zu gestalten, zu mutieren bzw. neu zu formen haben, das wird uns in den nächsten Jahren sicher noch viel beschäftigen. Sie werden auf alle Fälle die Seele jeglicher Neuformung sein.

Es bleibt mir der Wunsch für unsere 100jährige Provinz, dass wir als Oblaten des hl. Franz von Sales den Menschen in Österreich und Deutschland in Treue zu unserer Spiritualität und Identität als „produktive Vorbilder“, als „Vorreiter“, „Geburtshelfer“ und „Entwicklungshelfer“ im Einleben neuer sozio-ökonomischer und geistig-kultureller Situationen innovatorisch dienen können.

 

 

 



[1] Vgl. Danièle Hervieu-Leger: Pilger und Konvertiten – Religion in Bewegung, Ergon-Verlag 2004

[2] Vgl. Bachinger Alois, Annäherung an das Verständnis von Identität der Oblaten des hl. Franz von Sales, in: Geschichte und Sendung, herausgeg. von den Oblaten des hl. Franz von Sales der österreichisch-süddeutschen Provinz, Eichstätt 1998, S. 24

[3] Scheuer Manfred, In Wort und Beispiel des Herrn begründet (Lumen Gentium 43) in: Ordensnachrichten 45. Jhg. 2006/Heft 1, S. 9

[4] Kiechle Stefan, Mut zur Hingabe, in: HerKorr 58 (2004), S. 336-340

[5] Schütz Christian, Sendung und Erwartung der Ordensgemeinschaften heute, in: Leidenschaft für Christus – Leidenschaft für die Menschen. Ordensleben am Beginn des 21. Jahrhunderts. Arbeitshilfen Nr. 201. Herausgeg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2006, S. 13-31

[6] Vgl. ebd.

[7] Unveröffentlichte deutsche Übersetzung

[8] vgl. Balducelli Roger, Psychologische Wirksamkeit der Guten Meinung, in Jahrbuch für salesianische Studien Band 35, Eichstätt 2003, S. 60-66

[9] Schütz Christian, S. 26

[10] Unsere Sendung – Satzungen der Oblaten des hl. Franz von Sales, Eichstätt-Wien 1991, S. 65

[11] Vgl. Ravier A., Franz von Sales, Heidelberg 1963, S. 8

[12] Maureder Josef, Wir kommen, wohin wir schauen, Innsbruck 2004, S. 94-100